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DER BUS

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Vielleicht hast du schon einmal Bilder von einem alten Bus gesehen, der über eine wilde Bergkette rumpelt, irgendwo in China oder Pakistan.  Ein Bus voller Menschen, der auf einem steilen Feldweg entlang kriecht. Wenn nicht, findest du Tausende von Bildern davon online – Videos und Fotos aus allen Blickwinkeln. Finde ein Bild von einem bunten, rostigen Bus, der eine schmale Schotterstraße hinunterkriecht, mit Berggipfeln im Hintergrund. So wie meine Zeichnung oben. 

 

Ich war einer dieser Leute, die im Bus saßen, als ich die Welt bereiste. Der Bus war nicht voll, nur ca. 20 Einheimische stiegen zusammen mit mir ein und ich hatte mich glücklich in der letzten Reihe unter der Heckscheibe niedergelassen. Zu Anfang der Reise fühlte ich das abenteuerliche Gefühl, dass es kein Zurück mehr gibt. Wir waren ein paar Stunden gereist, kletterten bergauf in die Bergkette, die wir überqueren mussten. Dann kam der Moment, in dem mein Leben auf den Kopf gestellt wurde, um nie wieder dasselbe zu sein:

 

Das Knirschen von Reifen auf Schotter und  mein träumerisches Gefühl des angenehmen Schaukelns weicht plötzlich heftigem Rumpeln und Zittern, der alte Bus scheint auseinanderzubrechen. Tatsächlich öffne ich sofort die Augen, um mich umzusehen. Ich bin nicht überrascht, in diesem Bus zu sein, auch nicht überrascht von dem Kies und den Unebenheiten, aber mein Blick entlang der Sitze  - Ich erschrecke und reibe mir die Augen und schaue mir noch einmal die Leute an, die mit mir reisen. Obwohl ich nicht alle ihre Gesichter sehen kann, sind die, die ich sehe, ... vertraut. Im wahrsten Sinne des Wortes sind sie Familie, Mitglieder meiner Großfamilie, allesamt.  Ich schließe die Augen wieder, mein Verstand ist entschlossen, das Gesehene abzulehnen.  

 

'Ich träume, es kann nur ein Traum sein, ich sitze in einem Bus voller Fremder und da bin ich mir verdammt sicher. Ich schlafe einfach wieder ein.'  

 

'Ich dachte gerade das ich träume und möchte jetzt wieder einschlafen ? Das ist Unsinn !  

 

Mit diesmal weit aufgerissenen Augen vermeide ich es, meine Mitreisenden anzusehen und konzentriere mich auf die Landschaft jenseits der Fensterreihen bis hinunter zur Frontscheibe des Busses. Noch mehr Klappern und ein leichtes Ausscheren der Hinterachse, Stöße und Rütteln, Bremsen werden betätigt und gelöst.  

 

Der Bus fährt um eine enge Kurve, es  ist unmöglich zu wissen, was dahinter kommt, die Straße verschwindet aus dem Blickfeld, felsige Berge erheben sich zu beiden Seiten der schmalen Schotterstraße. Es ist nicht genügend Platz für zwei Fahrzeuge, um aneinander vorbeizukommen.

Keine Mittelspur, keine Schilder, nichts.  

 

Keine Zeit zum Nachdenken, nur ein sinkendes Gefühl im Bauch und Hitze kriecht mir ins Gesicht, während der Bus durch die Kurve fährt. Die Landschaft öffnet sich, und auf der linken Seite gibt es einen schönen Blick über ein Tal  - sanfter Nebel und in der Ferne eine Reihe grüner Hügel.  Mein Atem bleibt in der Brust, bis ein bekannter Schwindel mich dazu bringt, wieder einzuatmen.  

 

Ich möchte genießen was ich sehe, aber meine Gedanken laufen Amok - 'wow', 'aber', 'wenn', 'schau', 'unwirklich'  - bis das rasselnde, knirschende Geräusch, das Gefühl des Schleuderns und Stoßens und der Geruch von Dieselabgasen mich wieder fokussieren.  

 

Wir fahren nun einen langen und geraden Hang hinunter, weit unten scheint eine Steinbrücke über einen Fluss zu führen und hinter der Brücke eine scharfe Rechtskurve nach oben.  Furcht beschleicht mich, die sich sofort verstärkt denn der Bus fährt zu schnell. Das alte Fahrzeug beschleunigt bergab ohne Bremsen oder Korrektur, auf dem Boden und unter den Sitzen verstreut rollen Schuhe, Taschen und Kinderspielzeug nach vorne.  

 

Ich stehe von meinem Sitz auf und gehe den Gang hinunter, wobei ich mich an den Sitzen links und rechts festhalte, um das Gleichgewicht zu halten.  

​

'Diese Leute....'die Leute hier, wie können sie es nicht bemerken? Wie können sie noch mit geschlossenen Augen sitzen oder miteinander plaudern? Das ist verrückt, es ist offensichtlich, es ist beängstigend.....bei einer Geschwindigkeit wie dieser haben wir keine Chance, die schmale Brücke dort unten zu befahren, und selbst wenn wir es tun, wird die Kurve dahinter das Ende unserer Reise sein!'  

 

Es gibt keine Sekunde zu verlieren, eine wilde Dringlichkeit rüttelt mich auf, eine unglaubliche, angstgetriebene Wut bricht aus, ich höre mich  schreien:  

 

„Was ist los mit euch Idioten, schläft ihr alle? Wir werden in ein paar Sekunden abstürzen!'

 

Ich schreie noch mehr Worte, Fragmente der Verzweiflung, laut, wie Steine, bewerfe sie alle mit steinernen Worten.  

 

Eine ältere Frau dreht ihren Kopf, und als ihr Blick auf meinen trifft, sehe ich eine Mischung aus Verlegenheit und Abscheu in ihrem Gesicht, ein leichtes Kopfschütteln. Sie wendet sich ab, murmelt „beruhige dich, da ist nichts“ und schließt die Augen.

​

Ich gebe den Gedanken auf, Hilfe zu finden oder gar bemerkt zu werden, jemanden zu überzeugen, die Lebendigkeit der Menschen hier zu testen, ich kümmere mich um keinen von ihnen. Es geht es um mein eigenes Leben und mein Leben muss weitergehen, ich muss leben  - vergiss alle anderen.  

 

Es sind keine 10 Sekunden vergangen, seit ich von meinem Sitz aufgestanden bin wie eine angetriebene Rakete, meine ganze Aufmerksamkeit gilt nun dem Busfahrer, er oder sie ist der Täter, er oder sie ist der einzige, der diesen Wahnsinn beenden kann.  Wenn diese Person kopflos oder betrunken oder bewusstlos oder einfach nur verrückt ist, werde ich sicherstellen, dass ich das Lenkrad und die Bremsen in kürzester Zeit übernehme.  

 

Es besteht kein Zweifel, dass ich das kann und werde – eine Sekunde später stolpere ich zum Vordersitz und sehe, wer sich am schwarzen Metall des Lenkrads festhält.  Es ist ein kleiner Junge, höchstens 10 Jahre alt. Seine Hände rutschen auf dem Rad ab, das heftig zuckt, während die Reifen über Schotter und Felsen navigieren. Er balanciert auf der Sitzkante, die Beine sind ausgestreckt und ein Fuß versucht, die Bremsen nach unten zu drücken.  

 

Verrückt, Wahnsinn, unwirklich, unmöglich.

 

Ich packe den Jungen an Schultern und Armen, drücke seine Hände vom Lenkrad weg, halte mich daran fest, schiebe ihn mit meinem Körper zur Seite und ziele mit den Füßen auf die Bremse.  Ich drücke das Pedal fest durch. Keine Zeit, um aus dem Fenster zu schauen, keine Zeit, sich zu fürchten, keinen Gedanken, nicht einmal Angst.  Stattdessen eine mächtige, lustvolle Gewissheit zu tun, was getan werden muss, und ein akutes Bewusstsein dafür, was als nächstes passieren wird. Die Bremsen werden greifen, der Bus könnte schleudern, ich weiß nicht, wie weit wir auf der Piste runtergekommen sind, es besteht die Möglichkeit, dass es zu spät ist, es besteht die Möglichkeit eines Gemetzels.  

 

Die ganze Welt nähert sich mir, jede Sekunde unglaublich reich, ich bin mit purer Lebendigkeit in die Szene explodiert, eine Naturgewalt, keine Person. Es ist mir alles egal, es gibt kein 'Ich'.  

 

Der Bus wird durch Bremsen oder Aufprall auf die Brücke zum Halten gebracht - eine andere Option existiert nicht. Aber mein Fuß spürt keinen Widerstand während ich das Pedal voll durchdrücke und ich hebe ich den Kopf, um aus der Windschutzscheibe zu schauen, sehe die Brücke und deren Enge und fühle kaltes Wasser über meinen Rücken laufen - in dem Moment stoppt der Bus auf ungewöhnlichste Weise .  

 

Wie in einem Netz gefangen wird das Fahrzeug mit der Sanftheit eines hydraulischen Aufzugs angehalten, ein sinkenden Gefühl im Bauch, Vibrationen und dann - keine Bewegung mehr, der Bus steht. 

 

Ich hechte sofort zur Türe, drücke den Griff herunter und sie fliegt auf. Ich drehe ich mich um und schauezu dem Jungen, sehe sein erschrockenes Gesicht mit großen Augen, seinen Mund offen, seine Hände erhoben, seinen hageren Körper steif in Schock.  

'Bist du ok ?'  

'Ich weiß nicht.'  

'Lass uns hier verschwinden!'  

'Warum ?'  

 

'Warum?' Ein weiterer verrückter, unwirklicher Moment, ich stolpere aus der Tür auf den Kies, klettere und laufe, renne zu den Hügeln, nach oben, über Brombeergestrüpp und Büsche, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen.  

Schaue

Nicht 

Einmal

Zurück

 

Ich gehe immer weiter - es ist ein wilder und fremder Ort, die einzige Konstante ist Temperaturwechsel, während ich mich zwischen Schatten und Sonnenzonen in scheinbar endloser Natur zwischen Bäumen, Felsen, Gras und Blumen bewege. Ich trinke an einem Süßwasserbach, komme an einem kleinen See vorbei, sehe Schmetterlinge, Ameisen und andere Insekten - Wildtiere scheinen aus dem Wald zu spähen. Irgendwann setze mich erschöpft auf einen Baumstamm , ein Moment des Aufgebens, der Hingabe an den Irrsinn der letzten Stunden, ein heiliger Moment des Nichts.  Ich habe mein Zeitgefühl verloren, aber die Sonne steht immer noch oben am Himmel. Nach einer Weile hebe ich meinen Kopf, strecke meine Glieder und schaue mich um – in der Ferne ist ein Haus. Es scheint aus Stein zu sein, hat ein Dach und einen Schornstein und es gibt einen braunen Fußweg in der Nähe.

 

'Orientierung! Ich musste aufgeben, um diesen Hinweis zu bekommen, wie seltsam, wie seltsam.  

 

Mit neuer Energie mache ich mich auf den Weg zu diesem Haus, halte unterwegs nicht an um mich auszuruhen, nicht einmal um die Entfernung abzuschätzen. Auf den letzten Schritten spüre ich das alles, jedes Gefühl, jeden Eindruck, jedes Geräusch, jeden Geruch und jeden Gedanken, den ich seit dem Sprung aus dem Bus hatte von mir abfällt - wie gelöscht und doch muss ich eine Weile gewandert sein, die Sonne verschwindet gerade hinter den Bergen.  

 

Das Haus ist ein Zuhause, nicht trostlos, keine Ruine. Nicht über die Massen einladend aber es ist ein Zuhause von jemandem.  

 

  "Gretel ohne Hänsel am Haus der Hexe"  

 

Ein amüsiertes Lächeln im Gesicht atme ich tief ein und  - an der Tür ankommen  - zögere.

 

'Reiß dich zusammen - hier ist ein Haus, da ist eine Tür, geh rein. JETZT'  

​

Ein leichter Druck und die hölzerne Eingangstür gibt nach, öffnet sich in einen schmalen Flur, der zu  einen Raum führt aus dem gedämpfte Stimmen, Geplapper und Lachen zu hören sind.  

 

Ich bin erleichtert, mir gefiel der Gedanke nicht, dass das Haus möglicherweise von einem einzigen Menschen - Mann oder Frau - bewohnt wird. Der Klang mehrerer fröhlicher Stimmen fühlt sich gut an, meine Schultern entspannen sich und ich schließe für eine Sekunde die Augen, an die Wand gelehnt. Die Tür zu dem Raum in dem die  Menschen sind steht halb offen, nur wenige Meter entfernt.  

​

'Was soll ich den Leuten sagen - sie werden etwas wissen wollen und ich - ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin - vielleicht ist es ok - wenn ich einfach in Frieden schlafen kann - irgendwo - hier - morgen werde ich mich erinnern können.'

 

Kein Zögern mehr, kein heimliches Schauen und Lauschen, ich gehe einfach durch die halboffene Tür.  

 

Boom.  

 

Warum bemerkt mich keiner? Eine fremde Frau in der Tür ! Niemand sieht mich an, keine Gesprächsunterbrechung, kein Schweigen, keine überraschten Gesten und Gesichter?  

 

Nichts dergleichen geschieht, ich scheine unsichtbar zu sein. Ich stehe neben der offenen Tür im Inneren des Zimmers, schaue und höre, äußerlich ruhig. Mein Verstand auf Hochtouren, aber ich bin geübt darin, Aufruhr im Inneren einzudämmen. Mein Herzschlag beschleunigt sich nicht, mir ist weder heiß noch kalt, die leichte Spannung in der Magengegend ist erträglich. Es ist  surreal, interessant und seltsam.

 

Zu meiner Rechten ist ein Essbereich mit altmodischen Möbeln, nicht antik, nur Tisch und Stühle aus den 1950er Jahren. Auf dem Tisch Essensreste, gebrauchte Teller, halbleere Schüsseln. Dort sitzen Leute die sich unterhalten, mit halbvollen Gläsern Rotwein. Links öffnet sich der Raum in einen Wohnbereich mit Sesseln, zwei Sofas und einem Couchtisch, dort sitzen mehr Menschen und stehen mehr Weingläser. Geradeaus befindet sich ein offener Kamin, kalt, aber mit gestapeltem Holz daneben  - und ein weiteres Sofa. Schwarzes Holz und grellrote Polsterung wirkt dieses Sofa wie ein Stilbruch, ein „nicht dazugehöriges“ Möbelstück.  

 

Es sind zehn Sekunden in denen ich dies alles aufnehme, aber es kommt mir vor wie Minuten. Ich bezweifle mein Zeitgefühl, während eine innere Stimme behauptet, dass es keine Rolle spielt.  

 

Eine Tür im hinteren Teil des Raumes, neben dem Esstisch, öffnet sich und gibt den Blick frei auf Hängeschränke - eine Küche.  Zwei Kinder und eine ältere Frau betreten den Raum. Das ältere der Kinder, ein Junge von ca 6 Jahren, nimmt die Hand der Frau und führt sie zu dem roten Sofa neben dem Kamin. Sie setzt sich, so wie sich alle alten Leute hinsetzen -  vorsichtig, langsam, aufmerksam und erleichtert.  

 

Es kommt mir vor als sähe ich einen Film auf einer großen Leinwand, interessiert, aber doch unbeteiligt. Ich kann mich entfernen wann immer ich will ohne dass es jemand bemerkt oder sich darum kümmert. Sie sind Schauspieler auf einer Leinwand und ich bin der einzige lebendige Mensch.  Wenn ich zum Tisch ginge, mich hinsetzen und essen würde ? Würde mich immer noch niemand bemerken? Vielleicht sehen sie mich und meine Anwesenheit ist ihnen einfach egal?  

 

Ein weißhaariger Mann in einem der bequemen Wohnzimmersessel dreht sich um und sieht die Frau auf dem roten Sofa an. Er nickt, nimmt sein Weinglas und einen Löffel und erhebt sich vom Stuhl, der Klang des Löffels am Glas bringt alle zum Schweigen und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ist nun auf ihn gerichtet. Lächelnd blickt er einen nach dem anderen an und erhebt das Glas mit einem Nicken auf jede Person. Jetzt bin ich an der Reihe!  

 

Er nickt und lächelt mich an und ich nicke und lächle zurück.  

 

Boom.  

 

Der Mann ist mein Onkel, ein Bruder meines Vaters, er heißt Jeffrey. Ich habe ihn seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Unbewusst meinen Atem anhaltend, mit hochgezogenen Schultern und vor der Brust verschränken Armen erkenne ich dass jede Person im Raum ein Familienmitglied ist. An manche  Gesichter erinnere ich mich auf Grund eines alten Schwarz-Weiß-Fotos, andere kenne ich leibhaftig und persönlich. Die Frau auf dem roten Sofa ist meine Schwiegermutter, der Junge ist mein Neffe, das Mädchen meine Nichte. Aber es ist unmöglich, absolut unmöglich für all diese Leute, hier zusammen in einem Raum zu sein.....  

​

Jeffrey stellt das Weinglas auf den Tisch und beginnt seine Rede: „Ich fühle mich geehrt, heute Abend mit euch allen hier zu sein. Ich freue mich ganz besonders, dich zu sehen, liebe Dalene.“

 

Er verbeugt sich vor meiner Schwiegermutter auf der roten Couch und fährt fort:  

 

" Und so ist es mir eine große Freude dir, liebe Dalene heute mitzuteilen zu, dass" ... eine kurze Pause, um sich zu vergewissern, dass er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat ... " das du morgen die Ehre hast, den Bus zu fahren. Dein großer Tag.'

 

Boom

 

Nein. Nicht das.  

 

Die Wut der erinnerten Furcht steigt in mir auf, eine innere Explosion, ein starker Drang, aus der Tür zurück in die Wildnis zu rennen. Aber eine Stimme, vielleicht eine Stimme der Vernunft, vielleicht eine Stimme der Intuition, vielleicht eine Stimme jenseits von Vernunft und Intuition flüstert direkt hinter meinen Ohren : 

 

'Ein Film, das hier kann nicht echt sein. Es geht nicht um mich, ich bin nur ein Zuschauer, ich bin nicht in Gefahr. Ich will wissen was Dalene antwortet, ich will wissen wo ich bin, ich will bleiben, lass mich bleiben, will mich beruhigen, zuzusehen, zuzuhören. Dalene wird sich weigern, den Bus zu fahren, ich kenne sie ja seit vielen Jahren, sie war immer schüchtern, immer ängstlich, immer aber und wenn, immer Angst vor dem Leben, vor irgendetwas, vor Entscheidungen, vor morgen ...sie wird sagen 'Nein, ich fahre nicht den Bus, das kann ich nicht.'. Sie wird ihren Mann bitten, es für sie zu tun, aber er ist tot, er ist vor ein paar Jahren gestorben, sie muss jetzt weit über 80 sein. Und überhaupt,  was hat mein Onkel Jeffrey mit ihr zu tun, sie sind sich nie begegnet, sie betrachten sich nicht als Familie, das hier ist Surreal, wenn ich nicht hier wäre und es mit eigenen Augen sehen würde, würde ich es nicht glauben.. Bin ich hier ? Sehe ich es mit eigenen Augen? Halt die Klappe, es geht weiter !'

 

​

Dalene sitzt auf dem roten Sofa, ihre Füße berühren nicht den Boden. Sie hebt die Hände und sagt: 'Oh danke, aber du weißt, dass ich diesen Bus nicht fahren kann, ich kann kaum mein kleines Auto fahren!'  Aber ihre leise Stimme wird von den Kindern übertönt, die in die Hände klatschen, auf und ab hüpfen und schreien „Hurra, ja! Oma fährt den Bus ! Morgen fährt Oma den Bus !.'

 

Dalene ist sich nicht sicher, ob Jeffrey sie gehört hat, ihre Stimme zittert mit ängstlicher Vibration, ihr pochendes Herz spielt einen Rhythmus in ihrer Kehle. 'Hör zu, Jeffrey, ich kann den Bus nicht fahren. Billy muss uns fahren, er kann das, er wird es für mich tun, du weißt, dass ich dazu nicht in der Lage bin...'  

 

Jeffrey lächelt, nickt und antwortet: „Liebe Dalene, Billy ist nicht hier, er kommt vielleicht später, vielleicht nicht, wir wissen es nicht.  Es ist für uns alle wichtig, dass du morgen den Bus fährst – und wir wissen alle, dass du es kannst.“  

 

Nun erhebt sich eine Kakophonie von Zustimmung, Stimmen laut und leise, hoch und tief, Frauen und Männer sagen das Gleiche mit unterschiedlichen Worten und die Kinder hüpfen und klatschen in die Hände.  

 

„Wunderbar! Jetzt bist du dran! Endlich! Du schaffst es Dalene! Herzlichen Glückwunsch, Dalene! Mach dir keine Sorgen!'  

 

Tief ausatmend verspüre ich den seltsamen, unerklärlichen Impuls, mich der allgemeinen Zustimmung und Vorfreude anzuschließen und gleichzeitig einen Sog in die Mitte des Raums, um  mich sichtbar und hörbar zu machen.

 

'Meine Flucht aus dem Bus, wann war das ? Vor einem Tag oder einer Woche? Vor einem Monat oder Jahren? In einem anderen Leben? Es ist egal, die Szene und meine Gefühle sind echt, es zerreißt mich. Trotzdem brauche ich morgen nicht in diesem Bus zu steigen, niemand kann mich zwingen, mitzufahren. Soll Dalene sie doch alle die Klippe hinunter stürzen!  Moment mal, das ist ein schrecklicher Gedanke, ich will doch niemandem Schaden, oder? Aber trotzdem -  sie können alle gehen, wohin sie wollen,  ohne mich. Diese Leute können unmöglich echt sein, ich kann unmöglich mit ihnen hier sein, es ist ein Film, nichts als ein Film!  Ich will nicht hier sein aber ich möchte wissen, was als nächstes passiert -  ich will fliehen, ich will bleiben, ich will wissen, ob das alles hier echt ist oder nicht!'  

 

Ich richte mich auf und gehe zu Jeffrey, der im Sessel sitzt und einen Schluck von seinem Rotwein nimmt. Mich zu ihm hinunterbeugend sage ich: 

 

„Dalene kann diesen Bus nicht fahren!  Du weißt es, ich weiß es und jeder weiß es. Billy ist tot, er kommt nicht später. Wo bin ich? Was ist hier los und wie kommt es, dass ausgerechnet du, Onkel Jeffrey, hier bist?"  

​

In der Sekunde in der sich unsere Blicke treffen hebt sich ein Vorhang, ich spüre eine frische Brise, sehe Licht in den Raum fallen.  Ein neuer Gedanke  tanzt in der Luft, ich empfange ihn mit dem Atem, schnell steigt er ins Bewusstsein.  

 

'Ich habe verstanden !'

Flüstere ich neben Jeffreys Ohr.

 

„Niemand fährt JEMALS diesen Bus!  Wir alle spielen nur herum und denken, wir fahren. Wie Kinder auf Karussells auf einem Jahrmarkt. Ist es das ?"

 

Ein leichtes Nicken und Lächeln, Jeffreys Augen blinzeln nicht.  

 

„Ich verstehe, Jeffrey! Um zu erkennen, das man dem Bus nicht wirklich fährt muss man versuchen, ihn zu fahren. Es geht nicht anders. Mindestens einmal im Leben ....habe ich recht? Ist es das ?"  

 

Er legt den Zeigefinger über den Mund, nickt und flüstert:

"So ist es - du hast verstanden"  

​​

Unmittelbar werde ich aus dem tiefen Raum der Verwirrung und der gemischten Gefühle höher, in eine Ebene von Ruhe, Stille und Neuheit gehoben. Eine kurze aber eindrucksvolle Reise durch warmen Nebel, der mich umgibt, steige ich in körperlos und schwerelos hinauf. Eine Sekunde später ist da ein warmes vertrautes  Gefühl in der Magengegend. Ich bin ich wieder in meinem Körper, erhalte langsam ein Gefühl der Lebendigkeit und die Erkenntnis, dass ich von einer Reise zurückgekehrt bin.  

 

Ich öffne die Augen und befinde mich in meinem Zimmer, in meinem Bett, in meinem Zuhause. Leicht verwirrt aber zufrieden und dankbar. 

 

'Es ist noch da - nichts ist vergessen. Lieg still, beweg dich nicht und erinnere dich an alles was du noch erreichen kannst.  "Ich habe verstanden."

​

(c) So. Thomas 2020

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